Die von Willebrand-Erkrankung ist die häufigste erbliche Blutgerinnungsstörung des Hundes. Sie ist durch ein Fehlen ausreichend funktionellen von Willebrand-Faktors gekennzeichnet, der im Gerinnungsprozess in Zusammenarbeit mit Faktor VIII für die Anheftung der Thrombozyten an die Gefäßwand (Abb. 2) verantwortlich ist. Bei Fehlen dieses Faktors kommt es zur Plättchenfunktionsstörung. Damit fehlt der funktionelle primäre Thrombus (Gerinnungsstörung 1. Grades). Der von Willebrand- Faktor ist ein Glykoprotein, das vor allem in den Gefäßendothelien gebildet und zwischengelagert wird. Es werden zunächst Dimere von je 270.000 Dalton (Abb. 8), später dann große Multimere mit Molekulargewichten von bis 20 Millionen Dalton gebildet. Insbesondere diese Multimere sind für die Vernetzung der primären Clots wichtig. Vor allem ihr Fehlen ist für das Auftreten von Blutungen von Bedeutung. Anschließend werden die Multimere in einen nicht-konvalenten Komplex mit Faktor VIII integriert. Nur an diesen Faktor gebunden hat er eine Halbwertzeit im Blut von ca. 6 Stunden.
Die Erkrankung ist beim Menschen und über 50 Hunderassen beschrieben. 73% aller Dobermänner, 30% aller Scotch Terrier und 28% aller Shelties zeigten in einer Studie verminderte Plasmaspiegel. Demgegenüber gibt es nur einen einzigen dokumentierten Fall bei einer Katze (Himalaya-Katze, Vererbung nicht gesichert). Aufgrund der Plasmaspiegel und Molekularstruktur können drei Untergruppen differenziert werden. Tiere mit den sehr seltenen Typen 2 und 3 sind so schwer betroffen, dass sie häufig bereits intrauterin klinische Störungen aufweisen und abortiert werden oder spätestens als aufwachsende Welpen ausgedehnte spontane Blutungen zeigen. Die meisten dieser Tiere erreichen das Ende des ersten Lebensjahres nicht. Tiere mit Typ 1-Erkrankung können mit Krankheitsanzeichen während ihres ganzen Lebens erstmals vorgestellt werden. Bei besonders niedrigen Plasmaspiegeln treten Beschwerden schon im Welpenalter auf. Solche Tiere werden oft mit großen Blutergüssen oder Ergüssen in große Gelenke, vor allem das Kniegelenk vorgestellt, obwohl keine adäquaten Verletzungen vorausgegangen waren. Ist der Plasmaspiegel noch relativ normal, können auch in weit fortgeschrittenem Alter noch lebensbedrohliche Blutungskrisen entstehen. Diesen Blutungen ist dann typischerweise ein Unfall, eine Geburt, Operation oder Zahnbehandlung vorausgegangen.
Beide Geschlechter sind gleichmaßen betroffen. Es wird ein autosomaler Erbgang angenommen. Typ 2 und 3 werden rezessiv vererbt. Typ 1 gilt als inkomplett dominant mit variabler Expression. Es gibt jedoch auch Arbeiten, die rezessive Erbgänge annehmen. Es treten Spontanmutationen auf. Außerdem gibt es im Zusammenhang mit Hypothyreosen spontan auftretende, nicht erbliche Erkrankungen. Deren Charakter ist noch nicht abschließend geklärt. Daher sollte bei jedem von Willebrand-Patienten, insbesondere wenn er nicht den oben aufgeführten Rassen angehört, auch das Vorliegen einer Hypothyreose abgeklärt werden.
Eine begleitende Thrombozytopenie oder Plättchenfunktionsstörung durch eine Begleiterkrankung oder Medika- tion verstärkt die Blutungsneigung. Hier sind insbesondere nicht-steroidale Antiphlogistika von Bedeutung, weil sie den Prostaglandinstoffwechsel der Thrombozyten stören, und Plasmaexpander, weil sie durch Interaktion mit den Zellmembranrezeptoren die Plättchenaggregation stören. Häufig liegen eine Urämie, Hyperproteinämie, Anämie oder Lebererkrankung zusätzlich vor, die die Kontrolle der Blutung erheblich erschweren. Zahlreiche schwere Allgemeinerkrankungen oder Stresssituationen können bei von Willebrand-Patienten den ohnehin schon erniedrigten Plasmaspiegel soweit senken, dass akute Blutungen auftreten. Hierzu gehören auch Tumorerkrankungen, hormonelle Imbalanzen und bakterielle oder virale Infektionskrankheiten.
Weitergehende Untersuchungen
Die endgültige Diagnose eines von Willebrand-Faktor- Mangels erfolgt durch Nachweis des Plasmaspiegels. Von besonderer Bedeutung ist hierfür, dass sich die Faktoren von Mensch, Hund und Katze immunologisch und funktionell erheblich unterscheiden. Die Methode muss daher unbedingt für die spezielle Tierart validiert sein. Zur Untersuchung eignet sich Plasma aus EDTA- oder Citratröhrchen. Hämolyse oder Thrombenbildung ergeben falsch erniedrigte Werte. Die ELISA-Verfahren sind sensitiv, spezifisch und schnell und geben die Aktivität in U/dl oder Prozent an. Das Referenzplasma einer gesunden Population wird zu 100% gesetzt. Ein Wert von 50% oder 50 U/dl ist häufig die untere Nachweisgrenze. Solche Tests erlauben nicht die Differenzierung zwischen Typ 1-Patienten mit niedrigen Werten und solchen des Typs 3.
Für Patienten des Typs 2 kann eine Multimeranalyse durch Protein-Immunelektrophorese oder die Bestimmung des Molekulargewichtes erfolgen. Für klinische Zwecke ist die Unterscheidung der Typen nicht zwingend, da deren Behandlung sich nicht unterscheidet.
Mit Hilfe von Cofaktor-Assays kann die Plättchenfunktion direkt geprüft werden. Hierfür werden physiologische Plättchen einerseits mit einem agglutinierenden Reagens wie Botrocetin oder Ristocetin und andererseits mit der Patientenprobe agglutiniert. Die Standardisierung dieser Tests ist jedoch nicht unproblematisch.
Klinische Symptome
Am häufigsten treten Schleimhautblutungen, oropharyngeale Blutungen, Einblutungen in Haut und Unterhaut und Nachblutungen nach Traumen oder aus chirurgischen Wunden auf. Diese Anzeichen sind typisch für Gerinnungsstörungen ersten Grades und unterscheiden sich nicht von Plättchenfunktionsstörungen. Außerdem werden Nasenbluten, Meläna, verlängerte Läufigkeits- oder Nachgeburtsblutungen oder Zahnfleischblutungen beim Zahnwechsel beschrieben. Petechien sind im Zusammenhang mit von Willebrand-Erkrankung selten. Bei Vorliegen einer Typ 2- oder 3-Erkrankung treten regelmäßig bereits während des ersten Lebensjahres ein oder mehrere schwere Blutungszwischenfälle auf. Der Verlauf einer Typ 1-Erkrankung hängt vom Spiegel des von Willebrand-Faktors ab. Bei leichtem Faktorenmangel bedarf es für das Auftreten eines Zwischenfalles einer vorausgegangenen chirurgischen oder zahntierärztlichen Behandlung. Außerdem hängt der Verlauf von dem betroffenen Gewebe ab: Nasenschleimhaut und Harnapparat verfügen über größere Mengen Fibrinolysin, sodass diese Blutungen schwerwiegender ausfallen als solche aus Hautwunden. Bei Blutungen im Zentralnervensystem oder dem Atmungsapparat kommt es schon bei wesentlich geringerem Umfang zu lebensbedrohlichen Konsequenzen.
Gelegentlich ist neben dem von Willebrand-Faktor auch der Spiegel von Faktor VIII stark erniedrigt. In solchen
Fällen kommen auch Symptome von Gerinnungsstörungen 2. Grades wie ausgedehnte Hämatome, Gelenkergüsse oder Blutungen in Körperhöhlen vor. Bei diesen Patienten besteht aufgrund der klinischen Symptome Verwechslungsgefahr mit einer Hämophilie oder anderen angeborenen Faktormangelzuständen.
Therapie
Sowohl zur Prophylaxe als auch zur Therapie ist die Transfusion aktiven von Willebrand-Faktors Goldstandard. Da humaner Faktor sich von dem der Haustiere erheblich unterscheidet, fallen Faktorenkonzentrate nicht nur aus wirtschaftlichen Gründen aus. Frischgefrierplasma ist das Pharmakon der Wahl. Cryopräzipitat ist wesentlich teurer, nicht effektiver und steht nur selten zur Verfügung. Lediglich bei Patienten, die das gegenüber Cryopräzipitat etwa dreifache Volumen des Frischgefrierplasmas nicht tolerieren, ist es noch zu vertreten. Durch die Verwendung dieser Blutkomponenten ist die Sensibilisierung oder eine Abwehrreaktion gegen zelluläre Antigene zu verhindern. Die zu transfundierende Menge ist vom Ausmaß der Mangelsituation abhängig. Als Standarddosis werden 6 – 12 ml/kg KM angegeben. Steht die Blutung nach 30 Minuten nicht, wird dieselbe Menge nachgegeben. Einzelne Patienten benötigen bis zu 30 ml/kg KM. Bei Transfusion einer solch großen Menge ist auf die Volumenexpansion zu achten. Sie kann durch gleichzeitige Gabe von Furosemid gut beherrscht werden, da die Transfusion dieser Menge ohnehin eine längere Zeit in Anspruch nimmt. Flüssigkeitszufuhr und Diuresesteigerung können dabei gegeneinander bilanziert werden.
Die Plasmatransfusion vor einer chirurgischen Maßnahme kann einem von Willebrand-Patienten das Auftreten von Blutungen sogar ersparen. Aufgrund der biologischen Plasmahalbwertzeit des an seinen Träger gebundenen von Willebrand-Faktors von etwa sechs Stunden ist es von Vorteil, eine zweite und dritte Transfusion nach 6 und 18 Stunden zu verabreichen, um den Spiegel für längere Zeit zu erhöhen. Hierfür genügt in der Regel die Hälfte der oben genannten Menge. Bei Hämatokrit unter 30% sollte außerdem Erythrozytenkonzentrat transfundiert werden. Dies ist jedoch nur selten und nach erheblichen Blutungen notwendig.
Vor allem von Willebrand-Patienten, deren erster Blutungszwischenfall in jüngeren Jahren stattfindet, haben ein hohes Risiko, weitere Blutungen zu erleiden. Den Haltern dieser Tiere ist die Einlagerung eigener Plasmakonserven zu empfehlen. Diese müssen allerdings durchgehend gefroren gehalten und jährlich ausgetauscht werden. Nicht selten treten Blutungen bei von Willebrand- Patienten, deren Plasmaspiegel nicht sehr stark erniedrigt sind, anlässlich einer chirurgischen Maßnahme erstmals in höherem Alter auf. Solche Tiere haben eine gute Chance, bei sorgfältiger Operationsplanung und nötigenfalls prä- oder intraoperativer Transfusion von weiteren Zwischenfällen verschont zu bleiben.
Begleitbehandlung
Die bukkale Blutungszeit ist bei klinisch bedeutsamer von Willebrand-Erkrankung stets verlängert und kann einfach und kostengünstig gemessen werden. Deshalb empfiehlt sich ihre Überprüfung vor jeder chirurgischen Maßnahme.
Die blutsparende Chirurgie hat bei diesen Patienten besondere Bedeutung. Insbesondere die sorgfältige elektrochirurgische Blutstillung, der mehrschichtige dichte Wundverschluss, die dichte Naht von Zahnextraktionswunden, die Anwendung von Gewebeklebern und das Anlegen von gepolsterten Druckverbänden für einige Zeit nach der Operation können Blutungen vermeiden. Venen- katheter oder -punktionen, intramuskuläre Injektionen, eine Thorako- oder Abdominozentese und andere invasive Prozeduren sollten auf das dringend Nötige be- schränkt werden. Subkutane Injektionen sollten mit möglichst kleinen Nadeln vorgenommen werden. Für die Anwendung von Sulfonamiden, nicht-steroidalen Antiphlogistika, Heparin, Plasmaexpander oder anderen die Blutgerinnung beeinträchtigenden Arzneimitteln sollte eine besonders strenge Indikation gestellt werden.
Desmopressin-Acetat (DDVAP, ADH [Minirin]) stimuliert die V2 Vasopressin-Rezeptoren und führt zur Ausschüttung der intrazellulären Depots des von Willebrand-Faktors, Faktor VIII und Plasminogen-Aktivators. Es kann bei Vorliegen einer von Willebrand-Erkrankung vom Typ 1 den Plasmaspiegel deutlich erhöhen. Durch die Rekonstituierung der Plättchenfunktion sinkt die Blutungszeit. Da dieser Effekt nur die Ausschüttung vorhandener Depots nutzt, lässt er sich innerhalb weniger Stunden nicht mehrfach nutzen. Er führt im Anschluss daran zu einer reduzierten Ausschüttung. Als Operationsprophylaxe 30 Minuten vor einem Eingriff in einer Dosis von 0,5 bis 1 μg/kg KM s.c. verabreicht, werden die Spiegel etwa 4 Stunden erhöht und ersparen Patienten mit Plasmaspiegeln zwischen 50 und 70 Prozent oft die Transfusion. Frischgefrierplasma sollte jedoch sicherheitshalber verfügbar gehalten werden. Sollte es infolge des antidiuretischen Hormons zur Einschränkung der Diurese kommen, kann dies durch Mannitol ausgeglichen werden.
Zuchthygiene
Von Willebrand-Patienten sind von der Zucht auszuschließen. Da die Erkrankung auch als Spontanmutation auftritt und verschiedene komplizierte Erbgänge vorliegen, sind die Elterntiere jedoch nicht zwingend aus der Zucht zu nehmen. Die erneute Paarung sollte aber in jedem Fall vermieden werden. Die molekulargenetische Untersuchung wird zu Forschungszwecken an einzelnen Instituten durchgeführt. Die Ergebnisse lassen aber zuchthygienische Empfehlungen bislang nur in speziellen Situationen zu. In den meisten Fällen ist außerdem die Untersuchung der ganzen Familie notwendig. Für Dobermann, Scotch Terrier und Sheltie ist ein kommerzieller Test verfügbar. Zuchtempfehlungen lassen sich daraus aber auch noch nicht sicher ableiten.
© Dr. Staudacher, AniCura Aachen